„Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sangen Ton Steine Scherben 1970, doch im Moment ist dieser Ansatz nicht tauglich. Das neuartige Virus SARS-CoV-2 bringt für viele das Leben gerade in nahezu allen Bereichen aus den Fugen.
Als Coach, als verantwortlicher Manager, als Geschäftsführer oder als Gesellschafter stehen wir in diesen Tagen vor nicht beantwortbaren Fragen. Ängste um unsere Investments. Fragen der nachhaltigen Perspektive unserer Unternehmung und manche sicher auch vor der Sorge um die eigene Gesundheit oder um die von Mitarbeitern und oder Angehörigen. Wir empfinden eine direkte Konfrontation mit unseren Defizitbedürfnissen.
Defizitbedürfnisse. Der Begriff wurde durch den 1908 in New York geborenen Abraham Harold Maslow geprägt, der ab 1951 zehn Jahre lang das Psychologische Institut in Brandeis leitete. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Kalifornien, wo er am 8. Juni 1970 an einem Herzinfarkt starb. Maslow war einer der Gründerväter der Humanistischen Psychologie und führte 1954 den Begriff Positive Psychologie ein.
Die Defizit-Selbstbefriedigung
Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, stellte fest, dass einer Nicht-Erfüllung von Bedürfnissen die Grundlage vieler unserer psychologischen Schwierigkeiten sei. Wenn wir also ein Defizit haben, so verspüren wir das Verlangen dieses zu befriedigen. Wenn wir aber diesen Impuls nicht spüren, also keine Defizit-Selbstbefriedigung betreiben, so verspüren wir nichts und dieses „nichts“ nennt Maslow die Homöostase. Unter Homöostase versteht man Selbstregulation, das System sorgt von selbst für Ausgeglichenheit, ähnlich wie bei einem Heizungsthermostat, das sich nach Bedarf ein- und ausschaltet. Aber ist diese Selbstregulation immer die richtige Antwort?
Vergangene Woche hatte ich einen der unzähligen Zoom-Calls dieser Tage, der mich an dieser Theorie zweifeln lies. Mit mehreren Kolleginnen und Kollegen sprach ich über die aktuelle Zeit, und wie wir sie alle im Rahmen unserer Arbeit mit Klienten erleben.
Kein Wunsch also nach „Regulation“ und „Homöostase“
Zur Verwunderung aller oder eher der meisten nämlich wurde das Krisenhafte an der aktuellen Zeit durch unsere Klienten auf so heterogene Art und Weise referenziert, dass die eigentliche Krise, die wie wir alle wissen oder zumindest vermuten einen unmittelbaren und direkten Einfluss auf die individuelle Gesundheits-, Arbeits- oder möglicherweise Wirtschaftssituation mit sich bringen kann – also auf die nach Maslow so genannten untersten Defizitbedürfnisse – sich diese naheliegenden Defizite bei den Klienten eben nicht referenziert wurden. Sich der Kontext der Krise dafür umso mehr im Rahmen anderer erfahrbarer Defizite manifestierte oder zum Teil gerade die „resilienztrainierten“ Defizite der Vergangenheit durch die Krise wie von Geisterhand ausradiert wurden.
Kein Wunsch also nach „Regulation“ und „Homöostase“. Sondern vielmehr eine Sichtbarmachung, wie sehr der sich veränderte Rahmen der Defizitbedürfnisse seine vollkommen individuelle Referenzierungen sucht.
Es muss nicht alles ins Positive umgedeutet werden.
Einige Beispiele unserer Klienten:
- Ein häufig hadernder und beruflich Wechselwilliger erlebt in der Krise innerhalb seiner Organisation (die er in der Vergangenheit am liebsten fluchtartig verlassen hätte) seine eigenen Qualitäten als Feldherr. „Peacetime CEO knows that proper protocol leads to winning. Wartime CEO violates protocol in order to win.“ oder wie er es beschrieb: „Es ist so geil gerade.“
- Die sich auf der Suche nach der idealen beruflichen Perspektive befindliche Ex-Managerin erlebt den „Sinn, diese Suche loszulassen“ und somit der Sinnlosigkeit ihrer Suche. „Diese allgemeine Unsicherheit hat mir ungemein geholfen, gelassener zu werden. Heute kann man nicht mehr planen. Ich lasse es einfach auf mich zukommen.“
- Der promovierte Soziologe im gehobenen Staatsdienst, der sich täglich das Hirn zermarterte über den perfekten Umgang in komplexen Projekten zwischen öffentlicher Hand, Politik und privater Dienstleistung erlebt die reduzierte Sinnhaftigkeit in der Genehmigung direkter Nothilfe-Maßnahmen im Rahmen seiner Verwaltungsbefugnisse. „Es ist so simpel Gutes zu tun, sogar mit meiner Exfrau verstehe ich mich plötzlich besser als je zuvor.“
- Für die erfolgreiche C-Level-Managerin in einem multinationalen Software-Unternehmen ist Home-Office und Telework schon immer Alltag und stellt keine neue Hürde dar. Nur die fortschreitende Demenz der erst kürzlich ins Pflegeheim gezogenen Mutter und das damit einhergehende Kontaktverbot lässt das Liegengebliebene in der Aufarbeitung der Beziehung ins Unlösbare gleiten. „Meine Omnipotenz ist dahin. Endlich darf ich mich schwach fühlen. Was für eine Erlösung.“
Resonanz statt Resilienz
Und so kommt man durch die Krise ein Stückchen näher zu dem, was man wirklich ist und was wirklich zählt. Ohne Resilienz im Sinne der Widerstandskraft. Weil es so ist, weil es wichtig ist und sich das Wichtige seinen Weg bahnt, auch gegen die Widerstandskraft der Resilienz.
Beantworten Sie sich doch einmal folgende Frage:
„In welchen Momenten in den vergangenen Wochen hatte ich den Eindruck mir selbst und den eigenen Gefühlen am nächsten zu sein? Denken Sie an die großen Gefühle, egal ob sie gut oder schlecht waren.“
Schreiben Sie die Antwort auf ein Blatt Papier. Und stellen Sie sich dann folgende Frage.
„Welches tiefer liegende Thema könnte dieses Gefühl für Sie bedeuten?“
In der Antwort liegt keine Lösung der Krise oder gar die oben erwähnte Resilienz. Aber vielleicht liegt in der Antwort auf diese Fragen ein Hinweis, auf eine Frage, die Sie sich lange nicht oder gar noch nie gestellt haben. Nämlich die Frage nach der Resonanz dieses Gefühls.
„Was will ich nach der Krise für mich behalten? Welche Ressource oder welche Kraft hat sich mir gezeigt, die ich nach der Krise achtsam als Teil von mir behalten will?“
Und wenn Sie diese Resonanz entdecken, dann schauen Sie genau hin. Wenn Sie wollen.